Nie war Verbundenheit so ambivalent wie heute. Zwischen digitalen Check-ins, hybriden Teams und wachsendem Arbeitsdruck erleben viele eine paradoxe Situation: Wir sind ständig erreichbar – und fühlen uns doch oft nicht wirklich gesehen. Nähe und Distanz, einst natürliche Pendelbewegungen im sozialen Miteinander, sind aus dem Takt geraten.
Das Riemann-Thomann-Modell – vielen unserer Ausbildungsteilnehmenden und Absolventen vertraut – beschreibt vier grundlegende psychologische Grundausrichtungen: Nähe, Distanz, Wechsel und Dauer. Jeder Mensch trägt diese Anteile in sich, doch je nach Kontext treten unterschiedliche Bedürfnisse in den Vordergrund. Das Modell hilft, Verhalten nicht zu bewerten, sondern zu verstehen – relational, dynamisch, situationsbezogen.
Systemische Betrachtung
- Verhalten entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern in Wechselwirkung mit anderen.
- Unterschiedliche Nähe- oder Distanzbedürfnisse sind kein Problem, sondern ein Spiegel des Systems.
- Führung bedeutet, die Beziehungsdynamiken zu gestalten – mit Empathie, Struktur und Reflexion.
Dazu gehören systemische Fragen wie:
- „Was braucht mein Gegenüber – und was ich selbst?“
- „Wie wirken wir wechselseitig aufeinander ein?“
- „Was hält unser aktuelles Beziehungsmuster aufrecht – und was würde es verändern?“
Beziehungsintelligenz stärken: Das neue Führungstool
Gerade in Veränderungsprozessen zeigt sich: Es geht nicht nur darum, Strategien zu erklären, sondern Beziehungen zu gestalten. Systemische Beziehungsarbeit bedeutet:
- Typen erkennen: Wer braucht Stabilität (Dauer), wer Abwechslung (Wechsel)? Wer sucht Nähe, wer braucht Rückzug?
- Verständnis fördern: Gegensätze als Ergänzung begreifen.
- Kommunikation anpassen: Nähe-Typen brauchen Dialog, Distanz-Typen Raum zur Reflexion.
- Flexibilität ermöglichen: Führung ist heute nicht Kontrolle, sondern Resonanz.
Die „Verbindungsbrille“ – ein systemisches Mikrotool
Ein praxisnahes Reflexionsinstrument für Teams, Führungskräfte und Coaches:
- Selbstklärung:
- Wo stehe ich gerade auf der Nähe-Distanz-Achse?
- Wo im Alltag spüre ich Spannung? Wo geht Verbindung verloren?
- Fremdwahrnehmung:
- Welche Muster beobachte ich bei Kolleg:innen oder im Team?
- Welche Missverständnisse könnten daraus entstehen?
- Anpassung:
- Wie kann ich durch mein Verhalten Verbindung fördern – ohne mich selbst zu verlieren?
- Welche kleinen Experimente (z. B. andere Gesprächsführung, Rollenwechsel) kann ich ausprobieren?
- Impulsfrage für Teams: „Was brauchen wir in dieser Phase unserer Zusammenarbeit mehr – Nähe und Verbundenheit, oder Struktur und Rückzugsmöglichkeiten?“
Nutzen Sie diese Frage als Check-in, um emotionale Bedürfnisse sichtbar zu machen – und gemeinsame Gestaltungsräume zu eröffnen.
Verbindung ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr – sie ist ein Führungsthema. Wer sie aktiv gestaltet, erhöht die psychologische Sicherheit, stärkt Resilienz und schafft ein Klima, in dem Veränderung möglich wird. Systemische Perspektiven helfen, hinter das Offensichtliche zu schauen – und Beziehungsqualität als Schlüssel zur Wirksamkeit neu zu entdecken.