Viktoria Dreher – Diplom-Psychologin und Gründerin des Systemischen Instituts Hamburg – fasst zusammen, worauf es ankommt, wenn man systemischer Coach ist oder werden möchte.

Dieser Artikel ist eine Einladung, gemeinsam mit systemisch Interessierten ein Verständnis dafür zu entwickeln, was Systemisches Coaching für systemisch Beratende bedeutet.

Als Einstieg erklären wir, was wir unter Systemischem Coaching verstehen, aber nicht, was Systemisches Coaching ist. Und genau das ist ein zentraler und verwirrender Aspekt systemischen Denkens: Es gibt keine objektiven Informationen über die Dinge an sich. Eine Aussage darüber, was Systemisches Coaching ist, ist keine Aussage über Systemisches Coaching, sondern eine Aussage über denjenigen, der diese Aussage macht. Demnach existieren Phänomene nicht real, sondern werden in den Köpfen der Betrachter konstruiert. Diese systemische Grundannahme wird in der systemischen Fachsprache „Konstruktivismus“ genannt.

Im systemischen Denken sind die Beobachter, also wir selbst, dafür verantwortlich, was wir für „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ halten. Denn „ein System ist nicht etwas, das dem Beobachter präsentiert wird, es ist etwas, das von ihm erkannt wird“ (Maturana). (Maturana) Beobachten bedeutet hier Unterscheiden und Benennen. Wenn wir Phänomene benennen, haben wir sie zugleich von anderen unterschieden. Wir haben etwas Beobachtetes und etwas nicht Beobachtetes geschaffen und damit eine Wirklichkeit konstruiert.

Durch unsere selektive Wahrnehmung, Erfahrung und unser Wissen kann unsere Wirklichkeit nie objektiv sein. Das bedeutet, dass die Sicht des Coachs und auch die Sicht des Coachees auf sein Anliegen immer eine subjektive Konstruktion und damit eine Art Landkarte ist. „Die Landkarte ist aber nicht die Landschaft selbst.“ Diese Landkartenmetapher verdeutlicht, dass es einen Unterschied zwischen der Welt und unserer Konstruktion dieser Welt gibt. Landkarten helfen uns, die Komplexität der Welt zu reduzieren und dienen als Orientierungs- und Handlungsleitlinien.

Die systemtheoretischen Einstiegsfragen lauten daher nicht, welche Landkarten gut sind oder welche Konstruktionen „objektiv“ sind, sondern welche aus der Sicht des Beobachters nützlich und relevant sind: „Was ermöglicht dem Coachee diese Art der Konstruktion, was verhindert sie?“ „Wozu wird so und nicht anders konstruiert?“ „Was wird beobachtet, was wird ausgelassen und warum?“ Auch die Antworten und Lösungen werden von Coach und Klient konstruiert oder erfunden.

Durch Beobachtung und Kommunikation entstehen Systeme. Ein System besteht aus Elementen, die miteinander in Beziehung stehen und sich nach außen abgrenzen. Eine Coaching-Beziehung zwischen Coach und Klient wäre demnach auch ein System. Auch ein Unternehmen, ein Team oder ein Mensch, der aus Zellen und Gewebe besteht und sich durch die Grenzen des Körpers abgrenzt, kann als System gedacht werden.

Systemiker unterscheiden zwischen trivialen und nicht-trivialen Systemen. Der Unterschied besteht darin, dass triviale Systeme vorhersehbar und planbar sind. Der Mensch hingegen ist ein nicht-triviales System. Nicht-triviale Systeme sind in ständiger Veränderung, nicht vorhersehbar und gelten als autonom und selbstorganisierend. Da Menschen aus systemischer Sicht von außen nicht steuerbar sind, versucht der Coach, das Klientensystem durch förderliche Angebote zu irritieren. Ziel ist es, Denk- und Handlungsräume durch alternative Konstruktionen zu erweitern. Dabei nutzt der systemische Coach vorhandene Ressourcen und erschließt neue Möglichkeiten.

Ein Grundsatz des systemischen Coachings lautet: Jedes System ist mehr als die Summe seiner Teile. Es geht um die Wechselwirkungen zwischen den Elementen des Systems. Jedes Verhalten eines Beteiligten ist gleichzeitig Ursache und Wirkung des Verhaltens der anderen Beteiligten. Der Fokus im Coaching liegt nicht auf der einzelnen Person, sondern auf den Wechselwirkungen und Mustern der betrachteten Systeme. Der Blick im systemischen Coaching richtet sich damit weg von kausal-linearen Zusammenhängen hin zu zirkulärem Denken und Handeln. Dadurch erweitern sich die Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten.

Aus diesen systemtheoretischen Erkenntnissen ergeben sich eine systemische Haltung und eine systemische Praxis. Folgende Prinzipien und Coaching-Kompetenzen finden sich im systemischen Coaching wieder:

    Wertschätzende Haltung

Ein moderner systemischer Ansatz vertraut auf die Selbstorganisation des Systems. Jeder Mensch ist entwicklungsfähig. Für den Coach gilt es, dem Klienten in seiner Individualität achtsam und auf Augenhöhe zu begegnen. Entwicklung wird dadurch gefördert, dass sich der Klient grundsätzlich wertgeschätzt fühlt. In der Praxis bedeutet das: Respekt vor der Person und Hinterfragen der Konstruktionen des Klienten.

Prozessorientierung

Die Beziehung zwischen Coach und Coachee ist keine kausal-lineare Interaktion, sondern eine Wechselwirkung. Eine solche Interaktion ist nicht bis ins Detail planbar, sondern bedarf einer kontinuierlichen Anpassung. In der Praxis bedeutet dies, dass der Coach seine Konzepte und Methoden immer wieder von Situation zu Situation an die Entwicklungsmöglichkeiten und Interessen des Coachees anpasst.

    Wirklichkeitskonstruktion

Der Coach ist Beobachter und Teil des Systems/Coaching-Prozesses. Er beeinflusst das System durch seine persönliche Wahrnehmung: Auch er konstruiert seine Wirklichkeit. Er ist sich dessen bewusst und prüft immer wieder selbstkritisch, ob er in seinem Handeln nicht ungewollt problemverstärkend wirkt. Seine Interventionen sind Angebote. Er formuliert seine Erklärungsversuche als offene Hypothesen. Diese regen dazu an, alternative Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten und damit Handlungskompetenzen kreativ zu erweitern.

     Lösungs- und Ressourcenorientierung

Die zentrale Annahme im systemischen Coaching ist, dass jedes System bereits über alle Ressourcen verfügt, die es zur Lösung seiner Probleme benötigt. Der Zugang zu neuen Optionen ist oft zunächst versperrt. Perspektivenwechsel, positive Konnotationen und systemische Fragen helfen hier, den Möglichkeitsraum zu erweitern.

Es gibt immer mehr als eine Lösung. Im systemischen Coaching liegt der Fokus auf der Zukunft und ihrer Gestaltung. Für hilfreiche Lösungen werden hilfreiche Ressourcen und Kompetenzen aus der Vergangenheit und Gegenwart bewusst gemacht.

 Zirkularität

Zirkuläres Denken ist vernetztes Denken, das Kommunikation als dynamische Wechselwirkung versteht. Die Beteiligten sind gleichzeitig Handelnde/Agierende und Empfänger von Mitteilungen/Reagierende. Diese Annahme impliziert den Verzicht auf einseitige Schuldzuweisungen und fördert eine neugierige Auseinandersetzung mit dem eigenen Anteil an der Problemsituation. Im systemischen Coaching wird mindestens eine Veränderung auf einer Ebene angestrebt, sei es der Wahrnehmung, des Verhaltens, des Denkens oder der Emotionen. Dies bewirkt eine unmittelbare Veränderung auf den anderen Ebenen.

  Selbststeuerung

Systeme sind autonom, regulieren sich selbst und können nicht von außen gesteuert werden (Autopoiesis). Ein System produziert seine eigenen Lösungen für sich selbst. Die Aufgabe des Coaches ist es, Systeme zu irritieren, zu stimulieren, destruktive Muster zu unterbrechen, um hilfreiche Prozesse anzuregen und in Gang zu setzen. Dabei ist es wichtig, eine vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre sowie geeignete Rahmen- und Lernbedingungen für die Entfaltung von Kompetenz und Selbstorganisation zu schaffen.

 

Abschließend lässt sich feststellen, dass sich aus den Erkenntnissen der Systemtheorie eine systemische Haltung und Praxis im Coaching ableiten lässt. Die im systemischen Coaching verankerten Prinzipien und Kompetenzen spiegeln einen zeitgemäßen Ansatz wider:

Die wertschätzende Haltung basiert auf dem Vertrauen in die Selbstorganisation des Systems und in die Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen. Für den Coach bedeutet dies eine achtsame und respektvolle Begegnung auf Augenhöhe, die die Basis für eine förderliche Entwicklung bildet.