Die Bezeichnung Systemtheorie geht auf Ludwig von Bertalanffy zurück. Er führte den Begriff der organisierten Komplexität ein, der den dynamischen Austausch mit der Umwelt beschreiben soll. Der Systemische Ansatz ist eine interdisziplinäre Betrachtungsweise, die sich z.B. in der Psychologie, Biologie, Kybernetik und den Sozialwissenschaften findet.
Das systemtheoretische Erklärungsmodell wird überall da eingesetzt, wo es um komplexe Wechselwirkungen, dynamische Entwicklungen, Unvorhersehbarkeit, Ambivalenzen und Ambiguitäten geht.
Das systemische Denkmodell verlässt das mechanische Weltbild, nutzt das Mehrbrillenprinzip und betont die Selbststeuerung. Umso wichtiger erscheint es dabei einen Halt zu haben, der einem Coach hilft, einen systemischen Coachingprozess variabel zu gestalten.
Wir vom Systemischen Institut Hamburg haben die Haltung eines Systemischen Coachs durch Neun Grundsätze definiert. Viktoria Dreher, Diplom-Psychologin und Leiterin des Instituts zeigt auf, wie man systemisch-konstruktivistische Prämissen zur Anwendung bringt.
- Konstruierte Wirklichkeit
Nicht nur Pippi Langstrumpf, sondern „jede*r von uns macht sich die Welt, wie sie ihm/ihr gefällt“. Konstruktivist*innen und Systemiker*innen haben dieses Phänomen „Konstruierte Wirklichkeit“ genannt. Wir erzeugen selbst (oft unbewusst) eine Wirklichkeit, die für uns Sinn ergibt.
Der dahinterstehende Mechanismus ist unsere selektive Wahrnehmung. Sie resultiert daraus, dass wir aufgrund unserer individuellen Erfahrungen, Sozialisation und Interessen auf verschiedene Dinge achten. Wir erfassen unsere Umwelt durch einen jeweils individuellen Filter und konstruieren daraus eine Welt, eine Art Landkarte. Die Landkarte aber ist nicht die Landschaft selbst, sondern ein kleiner Ausschnitt aus dem Großen und Ganzen. Unsere Wahrnehmung kann demzufolge niemals objektiv sein: es gibt nicht nur eine (meine) Wahrheit, sondern viele Wahrheiten. Gerade diese unterschiedlichen Sichtweisen ermöglichen neue, kreative Lösungsansätze.
Die Zugangsfragen eines systemisch ausgebildeten Coaches lauten daher nicht, welche Konstruktionen gut oder „wahr“ sind, sondern welche nützlich sind und aus der Sicht des/der Klient*in Relevanz haben. Dazu gehören auch Fragen wie:
„Was ermöglicht dem Coachee diese Art der Konstruktion?“
„Was verhindert sie?“
„Wozu wird so konstruiert und nicht anders?“
„Welche Funktion hat diese Konstruktion?“
„Wie verhalten sich die Landkarten zu der Landschaft?
- Beobachterperspektive
„Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul.“
Wo immer wir hinschauen, sehen wir uns selbst mit unseren Konstrukten und Projektionen. Der Coach ist ein Teil des Berater-Klienten-Systems (BKS).
Daher bezieht sich ein systemischer Coach in die Erklärung des Geschehens mit ein. Denn er weiß, durch seine persönliche Wahrnehmung und durch seine Fokussierung kann er den Coaching-Prozess beeinflussen. Auch er konstruiert seine Wirklichkeit.
Ein systemischer Coach ist sich seiner selektiven Beobachtungsweise bewusst und selbstkritisch. Seine Interventionen sind eine Art Angebote oder Impulse. Seine Erklärungsversuche formuliert er in Form von offenen Hypothesen.
Im systemischen Coaching liegt das Augenmerk auf dem „Wie“ statt auf dem „Was“ beobachtet wird.
„Wie kommt eine Person, eine Organisation zu ihrer spezifischen Sicht?“
„Wie hilft diese Beobachtungsweise, anschluss- und überlebensfähig zu bleiben?“
- Zirkularität/Wechselwirkung
Wer kennt den Schmetterling- oder Mobile-Effekt nicht. Der kleinste Eingriff in ein System kann große Wirkungen auf das ganze System haben. Denn „Alles hängt mit allem zusammen.“
Im systemischen Coaching geht es um Erklärungsversuche diesbezüglich, wie Handlungen und ihre Wirkungen zusammenhängen. Das fördert ein zirkuläres Denken im Gegenteil zum linear-kausalen.
Die Coachees sind gleichzeitig Handelnde/Agierende und Empfänger von Mitteilungen/Reagierende. Diese Annahme impliziert den Verzicht auf einseitige Schuldzuweisung und fördert eine neugierige Auseinandersetzung mit dem eigenen Anteil in der Problemsituation.
Auf diese Weise werden die Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten der Klienten erweitert und die rigiden Problemmuster aufgelockert.
„Was müssen Sie tun, damit der andere genau das Verhalten zeigt, das Sie sehen wollen?“
- Kontextbezug
Ein häufig zitierter Spruch in der Welt der Systemiker*innen ist: „You can’t kiss a system.“ Zwar existieren die Systeme, aber sie sind nicht sichtbar. Was zu beobachten ist, sind die Handlungs- und Verhaltensweisen und deren Auswirkungen.
Es dreht sich im systemischen Coaching um spezifische Systemkontexte, in denen Handlungen zustande kommen. Anliegen, Ziele und Phänomene sind nur vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Kontextes erklärbar.
Das Verhalten und Erleben eines Menschen ist in erster Linie nicht durch intrapsychische Prozesse bestimmt, sondern wird entscheidend beeinflusst durch die Wechselwirkungen mit dem jeweiligen Kontext, in dem sich die Person bewegt.
Probleme sind keine Dinge an sich, sondern Deutungen und Zuschreibungen eines durch bestimmte Regeln und Normen definierten Kontextes. Auch zunächst unverständliche oder „abnorme“ Verhaltensweisen können in einem passenden Kontext als kluge und angemessene Handlungen verstanden werden.
- Prozessorientierung
Sind Sie gerade verliebt? In Ihre eigene Lösung als Berater oder Coach und können sich nur schwer von ihr trennen? Neugierig auf die Reaktion des Systems zu sein, könnte eine systemische Antwort auf dieses Dilemma sein.
Die Beziehung zwischen dem Coach und dem Coachee weist keine kausal-lineare Interaktion auf, sondern stellt eine Wechselwirkung mit dem jeweils anderen dar. Durch entstehende Interaktion zwischen Klientensystem und Beratersystem etabliert sich ein neues System – das Berater-Klienten-System (BKS).
So eine Wechselwirkung lässt sich nicht bis ins Detail planen, sondern erfordert eine kontinuierliche Anpassung. In der Praxis bedeutet das, der Coach gleicht seine Konzepte und Methoden immer wieder von Situation zu Situation an die Entwicklungsmöglichkeiten und Interessen seines Coachees an.
Außerdem wird Prozessorientierung von folgenden Prinzipien gekennzeichnet:
- Der Coach achtet auf die Balance zwischen Verändern und Bewahren
- Interventionen werden im Prozess angepasst, um anschlussfähig zu sein
- Die Interventionen des Coaches sind Impulse, aus denen der Klient Lösungen entwickelt, wenn diese Resonanz in ihm auslösen
- Selbststeuerung/Autopoiese
„Als ich aus der Zelle (nach 27-jähriger Haft) durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben.“ Nelson Mandela.
Einflüsse von Kontextbedingungen im System sind zwar sehr wichtig, sein Erleben wird aber autonom in seiner inneren Selbstorganisation bestimmt. So gesehen, kann niemals zu einem bestimmten Erleben gezwungen werden. Systeme sind autonom, regulieren sich selbst und können nicht von außen kontrolliert werden (Autopoiese).
Ein System produziert für sich selbst seine eigenen Lösungen. Die Aufgabe des Coaches ist es, Systeme anzustoßen, destruktive Muster zu unterbrechen, um hilfreiche Prozesse anzuregen und in Gang zu setzen. Dabei ist es wichtig, eine vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre und geeignete Rahmen- und Lernbedingungen für die Entfaltung von Kompetenzen und Selbstorganisation zu kreieren.
- Lösungs-/Ressourcenorientierung
Erinnern Sie sich an das Kinderspiel: „Ich sehe, was Du nicht siehst.“?
Ein systemisch ausgebildeter Coach erkennt in den Coachees deren Ressourcen und Kompetenzen auch dann, wenn die Klienten selbst sie zuerst nicht sehen oder nicht wertschätzen.
Die zentrale Annahme im systemischen Coaching lautet: Jedes System verfügt bereits über alle Ressourcen, die es zur Lösung seiner Probleme benötigt. Der Zugang zu den neuen Optionen ist oft zunächst versperrt. Ein Perspektivwechsel, positive Konnotation und systemische Fragen helfen hier, den Möglichkeitsraum zu vergrößern.
Es ist immer mehr als nur eine Lösung möglich. Dabei liegt das Augenmerk auf der Zukunft und ihrer Gestaltung. Für die hilfreichen Lösungen werden nützliche Ressourcen und Kompetenzen aus der Vergangenheit und Gegenwart bewusst gemacht.
Die Lösungsansätze im systemischen Coaching erzeugen einen Unterschied: Sie helfen dem Klienten, seine Situation in einem anderen Licht zu sehen. Interventionen sind irritierend sowie anschlussfähig und resonanzerzeugend zugleich.
- Allparteilichkeit
Neutralität zeigt sich auch in der Allparteilichkeit – also im Bestreben, alle Mitglieder des Systems aus ihrer Perspektive heraus zu verstehen und ihre Sichtweisen wertzuschätzen.
Darüber hinaus berücksichtigen wir vor allem die folgenden Neutralitätsfokussierungen:
- Konstruktneutralität:
Unter Konstruktneutralität ist eine neutrale Haltung des Coaches im Hinblick auf die Bedeutungs- und Bewertungskonstruktionen des Coachees gemeint. Es gilt, positive und negative Bewertungen gegenüber Lebensentwürfen und Beziehungen des Klienten sowie seinen Sichtweisen und Weltbildern zu vermeiden. - Veränderungsneutralität:
Der Coach drängt den Klienten nicht zu einer Veränderung, sondern bespricht sowohl die Nachteile einer Veränderung als auch die Vorteile einer Nicht-Veränderung. Die Veränderungsneutralität schützt den Berater davor, mehr Energie in die Veränderung zu investieren als der Klient. - Temponeutralität:
Der Klient selbst bestimmt, wie schnell er im Entwicklungsprozess fortschreiten möchte. Der Coach passt sein Vorgehen an dem Tempo seines Coachees an.
- Neugier/Offenheit
Der eine präferiert Planbarkeit, die andere schätzt Spontaneität. Wieder ein anderer braucht zwischenmenschliche Nähe, wohingegen eine weitere Person Wert auf Distanz legt. Menschen sind verschieden und so sind es auch ihre Weltbilder.
Der systemische Beratungsansatz zeichnet sich durch eine Neugier und Offenheit gegenüber allen Auffassungen, Haltungen und Überzeugungen des Coachees aus. Das bedeutet aber nicht, dass der Coach alle Ansichten der Klienten teilt und unterstützt.
Grundakzeptanz, Wertschätzung und Offenheit schaffen eine respektvolle Atmosphäre, in der sich der Klient geschützt fühlt. Erst in diesem geschützten Rahmen wird die Konfrontation mit den Auswirkungen eigenen Verhaltens und Handelns möglich. Der Klient selbst übernimmt die Verantwortung und entscheidet, was er mit den gewonnenen Kenntnissen macht.